Das latente Phänomen der Personvergessenheit kann in vielfältiger Weise zum Vorschein treten. So können alltägliche Handlungen gegenüber sich selbst oder anderen Menschen personvergessen sein. Was ist hiermit gemeint? Personvergessene Handlungen sind solche Handlungen, in denen menschliche Personen sich selbst oder andere so behandeln, als wären sie selbst oder die anderen Menschen keine menschlichen Personen, sondern bloße Dinge oder Sachen. Was aber unterscheidet, so muss weiter gefragt werden, eine einem Ding oder einer Sache angemessene menschliche Handlung, von einer Handlung, die einer Person gegenüber unangemessen ist? Oder sind alle menschliche Handlungen unabhängig vom Handlungsobjekt gleichermaßen angemessen bzw. unangemessen? Dies scheint nicht zuzutreffen, ansonsten wären z. B. terroristische Morde, das Quälen, das Verstümmeln, das Vergewaltigen von Menschen etc. in gleicher Weise angemessen, wie das Verzeihen von erlittenem Unrecht angemessen ist, oder das Retten eines ertrinkenden Kindes, angemessen ist. Diese Annahme ist aber kontraevident und absurd, vielmehr verdeutlichen die gewählten Beispiele, dass es in der Wirklichkeit einen ethischen Unterschied zwischen verschiedenen menschliche Handlungen gibt.[1]
Nur die Person ist zu wirklichen Handlungen befähigt, eine Maschine oder auch ein durch Instinkte gelenktes Tier, das keinen vernünftigen freien Willen besitzt, kann in diesem Sinn nicht personal handeln. Um personal zu handeln, bedarf es eines personalen Ich oder Selbst, einer personalen Vernunft und eines freien personalen Willens. Nur geistige Personen, und nicht rein Materielles, können ganz neue Handlungen schaffen und einen ersten Handlungsbeginn initiieren. Nur die Person kann kraft ihres freien Willens etwas „Neues“ realisieren, z. B. indem sie eine Wertantwort auf einen objektiven Wert gibt. Wenn es also der menschlichen Person angemessene und unangemessene Handlungen gibt, was zeichnet eine dem Menschen angemessene Handlung im Gegensatz zu einer personvergessenen Handlung aus? Wenn jemand seinen Kanarienvogel so behandelt, als wäre er sein leibliches Kind, so könnte man von einer unangemessenen menschlichen Handlung sprechen.
D. h. aber noch nicht, dass deswegen diese Handlung in jedem Fall schon ethisch schlecht sein muss. Behandelt hingegen jemand sein leibliches Kind so wie seinen Kanarienvogel oder so wie ein rein materielles Ding, so ist dies eine personvergessene Handlung, die in jedem Fall ethisch illegitim ist, da sie der unverlierbaren ontologischen Personwürde des Kindes nicht gerecht wird. Es gibt zahllose solcher personvergessenen Handlungen in Bezug auf Menschen, die immer qua Menschsein auch menschliche Personen sind. Die Beispiele solcher personvergessenen Handlungen reichen von Instrumentalisierung einzelner Menschen zur Gewinnmaximierung, Lustmaximierung etc. bis hin zur Instrumentalisierung vieler Menschen, etwa wenn z. B. Masseneinwanderung von Menschen durch einen Staat als geostrategische ‘Waffe’ verwendet wird, um bestimmte geostrategische Interessen durchzusetzen.[2]
Was ist das Sosein bzw. Wesen personvergessener Handlungen? Personvergessener Handlungen ist immer der Verstoß gegen die sog. personalistische Norm wesentlich. Die Angemessenheit der personalistischen Norm im Umgang mit Menschen ist in ihrem Personsein fundiert.
Die menschliche Person hat qua ihres Personseins einen objektiven Wert bzw. Überwert, der an alle rationalen Wesen, die mit ihr in Relation stehen, einen objektiven Ruf bzw. eine objektiven Forderung erhebt. Die Antwort auf diese Forderung des objektiven Wertes kann mit Dietrich von Hildebrand auch als Wertantwort bezeichnet werden.[3] Kurz gesagt, umfasst die personalistische Norm die rechte Antwort auf die menschliche Person, nämlich die Bejahung der Person um ihrer selbst willen und die rechte Liebe der jeweiligen menschlichen Person.
Wenn z. B. menschliche Personen so handeln und leben, als wären sie ontologisch von allen übrigen rein materiellen Dingen wesensmäßig nicht verschieden, so leben und handeln sie personvergessen. Ein Beispiel hierfür ist z. B. ein bewusster oder unbewusster Verstoß gegen die Personalistische Norm: „persona est affirmanda / amanda propter se ipsam“.
Vgl. z. B. Hildebrand, (1973). Ethik. 2. Aufl. Gesammelte Werke. Regensburg: Habbel., 1980; (1980). Moralia: nachgelassenes Werk. Gesammelte Werke. Regensburg, Stuttgart: Habbel, Kohlhammer. Spaemann, (2009). Glück und Wohlwollen: Versuch über Ethik. 5. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta.). ↩︎
Vgl. z. B. Greenhill, Weapons of mass migration forced displacement, coercion, and foreign policy. Ithaca, N.Y.: Cornell University Press. ↩︎
Vgl. bsd. Seifert, (1992). „Dietrich von Hildebrands philosophische Entdeckung der ‘Wertantwort’ und die Grundlegung der Ethik“. In: Aletheia: An International Journal of Philosophy 5, S. 34–58. ↩︎